This article was originally published on August 17, 2011 at http://liquidfeedback.org/2011/08/17/5-jahre-liquid-democracy-in-deutschland/ and covers the events up to August 17, 2011 prior to the Berlin city-state elections in that year.
Bereits im Jahre 1884 beschrieb Lewis Caroll in seinem Werk „The Principles of Parliamentary Representation“ die Idee des Delegated Voting[1]: Das vorher schon bekannte Prinzip der Übertragung der eigenen Stimme bei einer Entscheidung an einen anderen Stimmberechtigten (Proxy Voting) wurde dahingehend erweitert, dass Stimmen auch über mehrere Stufen (transitiv) weitergegeben werden können (Delegated Voting).
Zu einem tatsächlich Einsatz kamen diese Verfahren praktisch nicht, sicherlich insbesondere aufgrund des hohen logistischen Aufwandes angesichts der damals zur Verfügung stehenden Mittel. Erst über 100 Jahre später wurde diese Idee in Zusammenhang mit den Möglichkeiten des Internets neu gedacht und die Idee der Liquid Democracy[2] als ein demokratisches System mit direkten Abstimmungen und der Möglichkeit zur transitiven und jederzeit widerrufbaren Delegation der eigenen Stimme formuliert.
In Deutschland ist die Idee der Liquid Democracy mit der Piratenpartei seit ihrer Gründung im September 2006 eng verknüpft. Am 16. Februar 2007 erfolgte der erste Eintrag zu Liquid Democracy im Dokumentations-Wiki der Piratenpartei[3], in dem die angestrebten Ziele formuliert wurden. Auch der erst viel später zu Tage tretenden Konflikt zwischen Überprüfbarkeit elektronischer Abstimmungen einerseits und Datenschutzansprüchen andererseits wird benannt.
Ein halbes Jahr später antwortete der auf dem Gründungsparteitag der Piratenpartei zum politischen Geschäftsführer gewählte Jan Huwald im Interview mit Telepolis[4] auf die Frage nach den Plänen der deutschen Piratenpartei damit, dass diese absolut basisdemokratisch entstanden sei und nunmehr das Konzept der Liquid Democracy verfolgen würde um die Vorteile von repräsentativer und direkter Demokratie zu vereinen. Laut Huwald plante man das System zunächst in der eigenen Partei auszuprobieren, um es dann anderen Parteien anzubieten und letztendlich ins Programm der Partei aufzunehmen.
Eine größere Aufmerksamkeit wurde dem Thema jedoch erst wieder nach dem Bundestagswahlkampf 2009 zuteil. Durch den erfolgreichen “Zensursula”-Wahlkampf konnte die Piratenpartei ihre Mitgliederzahl stark erhöhen. Gleichzeitig erreichte sie dabei jedoch die Grenzen basisdemokratischer Organisationstrukturen. Es kam die Vorstellung auf, zukünftig entweder Parteitage mit tausenden Mitgliedern abzuhalten oder ein den eigenen basisdemokratischen Ansprüchen nicht genügendes Delegiertensystem einführen zu müssen. Angesichts dessen wurde der Wunsch vieler Parteimitglieder nach einer Liquid-Democracy-Lösung immer größer.
Zu der Zeit machten Gerüchte die Runde, dass in Kürze eine Liquid-Democracy-Software zur Verfügung stünde. Mit großer Spannung wurde somit auch eine Veranstaltung aus der Reihe Datengarten[5] des Chaos Computer Clubs am 3. September 2009 in Berlin erwartet, auf der Daniel Reichert und Martin Häcker vom Liquid Democracy e. V. das theoretische Konzept des „Direkten Parlamentarismus“ vorstellten, dessen Implementierung jedoch in den Sternen stand. Die Piratenpartei Deutschland richtete eigene Arbeitsgruppen zum Thema ein. Die Arbeitsgruppe des Landesverbandes erhielt vom Vorstand am 20. September 2009 den Auftrag[6] einen Pilotbetrieb von Liquid Democracy und eine Satzungsänderung vorzubereiten, um spätestens zur Abgeordnetenhauswahl 2011 Liquid Democracy verbindlich einsetzen zu können.
Nicht zuletzt deshalb beschäftigten sich Jan Behrens, Axel Kistner, Andreas Nitsche und Björn Swierczek vom Public Software Group e. V. näher mit dem Thema Liquid Democracy. Sie konzipierten gemeinsam einen Antragsentwicklungsprozess in Kombination mit Delegated Voting und einer Präferenzabstimmung nach der Schulze-Methode[7]. Angesichts der berechtigten Kritik an geheimen elektronischen Abstimmungen, wie sie im Zusammenhang mit Wahlcomputern u. a. von der Stiftung „Wij vertrouwen stemcomputers niet“[8] (Wir vertrauen Wahlcomputern nicht) und dem Chaos Computer Club vorgetragen[9] wurden, entschied man sich, geheime Abstimmungen nicht in das Konzept aufzunehmen.
Stattdessen wurden ausschließlich namentliche Abstimmungen[10] vorgesehen. Bei namentlichen Abstimmungen wird jede abgegebene Stimme offen mit einem Merkmal – meist dem bürgerlichen Namen – verknüpft, welches wiederum der abstimmenden Person hinreichend zugeordnet werden kann. Somit würde das System in der Lage sein, Entscheidungen zu treffen, auf die trotz der eingesetzten elektronischen Medien vertraut werden kann. Das erarbeitete Gesamtkonzept wurde ab September 2009 in der Software LiquidFeedback[11] umgesetzt.
Parallel zur Entwicklung von LiquidFeedback durch Behrens, Kistner, Nitsche und Swierczek beschäftigte sich Friedrich Lindenberg mit der Entwicklung einer anderen Liquid Democracy Software namens „Adhocracy“[12], die über einen anderen Antragsentwicklungsprozess verfügte und das Konzept einer sogenannten „permanenten Abstimmung“[13] umsetzte. Sowohl LiquidFeedback als auch Adhocracy orientierten sich dabei jedoch am Liquid-Democracy-Prinzip der themenbezogenen transitiven Stimmenübertragung.
Am 25. November 2009 entschied[14] sich die Arbeitsgruppe Liquid Democracy der Piratenpartei Berlin dazu, eine Liquid-Democracy-Software im Rahmen der Parteitagsvorbereitungen zu erproben. Dem Landesvorstand wurde dazu vorgeschlagen eine Instanz des Prototyps von LiquidFeedback einzurichten und mit den Mitgliedern des Landesverbandes zu testen. Der Vorstand befürwortete das. Es wurden Mittel für einen Server zur Verfügung gestellt und Administratoren beauftragt[15].
Als in der Arbeitsgruppe die genauen Bedingungen des Betriebs erarbeitet wurden, stellte sich heraus, dass starke Bedenken vorherrschten an namentlichen Abstimmungen teilzunehmen. Daher wurde gefordert auch unter einem Pseudonym mitmachen zu können. Obwohl LiquidFeedback für eine pseudonyme Nutzung überhaupt nicht entwickelt wurde, konnte diese ohne Modifikation der Software erreicht werden: Es sollte einfach darauf verzichtet werden, in den Benutzerkonten von LiquidFeedback das für den Benutzer selber nicht änderbare Feld „Identification“ mit dem Namen zu befüllen. Dieses Feld dient dazu, die für namentliche Abstimmungen notwendige Verknüpfung zwischen abgegebenen Stimmen und Person des Abstimmenden zu erreichen. Auch wenn es technisch ohne weiteres möglich ist dieses Feld nicht zu befüllen, folgt daraus dennoch zwangsläufig, dass die Überprüfbarkeit der Abstimmungen verloren geht.
Die dadurch angestrebte Pseudonymität kann jedoch auch nur bedingt erreicht werden, da für die Akkreditierung der Parteimitglieder, also beispielsweise für das Sperren ausgetretener Mitglieder, die Einladungsschlüssel für LiquidFeedback im Eintrag des Parteimitglieds in der Mitgliederdatenbank gespeichert werden müssen[16]. Hierdurch ergibt sich eine indirekte Verknüpfung des Benutzerkontos in LiquidFeedback mit einer Person. Durch gezieltes Zusammenführen der Informationen aus der Mitgliederverwaltung mit denen aus der Datenbank des LiquidFeedback-Systems ist eine jederzeitige Depseudonymisierung einzelner oder aller Benutzer möglich. Dies kann berechtigt – beispielsweise auf Vorstandsbeschluß oder richterliche Anordnung – oder auch unberechtigt und unbemerkt geschehen.
Aufgrund des experimentellen Charakters und der damit einhergehenden Abdingbarkeit der Überprüfbarkeit der Entscheidungen des Systems einigte man sich darauf, so vorzugehen. Um die (eingeschränkt) pseudonyme Nutzung zu ermöglichen wurde auf die Überprüfbarkeit der Abstimmungen verzichtet.
So wurde LiquidFeedback ab 4. Januar 2010 auf einer eigenen Instanz des Landesverbandes[17] getestet und damit unverbindlich auch der bevorstehende Landesparteitag vorbereitet. Auf diesem Parteitag wurde am 28. Februar 2010 der Abschnitt Liquid Democracy in die Satzung aufgenommen[18]. Die Entscheidungen des Liquid-Democracy-Systems des Landesverbandes gelten nunmehr als Empfehlungen an die Organe der Partei. Die ursprünglich angestrebte Verbindlichkeit wurde nicht verankert, da es für unzulässig gehalten wurde, die Entscheidungen eines Parteiorgans formal an Entscheidungen aus LiquidFeedback zu binden.
Diese Verbindlichkeit wäre durch Schaffung eines neuen Organs erreichbar[19], das Beschlüsse jederzeit eigenständig mittels Liquid Democracy fällen könnte. Innerhalb des Rahmens von Satzung und Programm könnten verbindliche Beschlüsse gefasst werden, mit denen die Parteibasis beispielweise kurzfristig auf aktuelle politische Themen reagieren könnte. Für ein solches Organ wäre jedoch die Überprüfbarkeit der namentlichen Abstimmungen durch die bereits erwähnte direkte Verknüpfung der abgegebenen Stimmen mit der abstimmenden Personen unabdingbar. Neben der Verwendung des bürgerlichen Namens wäre hierbei auch ein selbst gewählter Name denkbar, der durch das Parteimitglied auf einem Parteitag oder einer vergleichbaren Veranstaltung vorgestellt wird und dann mit der Person hinreichend verknüpft ist.
Eine im laufenden LiquidFeedback-System im Juni 2010 gestellte Initiative zukünftig „Realnamen“ bei der Nutzung zu verlangen[20] wurde nicht angenommen. Die Gegeninitiativen[21a] weiterhin Pseudonyme zu ermöglichen wurden von den Berliner Piraten bevorzugt.
Auf dem Bundesparteitag in Bingen wurde am 16. Mai 2010 unter der Antragsnummer Z013 beschlossen[21b], dass die Piratenpartei ein LiquidFeedback-System in Betrieb nimmt. Es wurde festgelegt, dass die Entscheidungen des Systems als unverbindliche Meinungsbilder zu verstehen sind. Im Rahmen der Beendigung des Parteitags wurde zusätzlich beschlossen, dass der nächste Parteitag als Programmparteitag durchgeführt und inhaltlich mit LiquidFeedback vorbereitet werden soll. In Folge des Parteitags wurde unter Führung vom zuständigen Bundesvorstand Christopher Lauer und von Alexander Morlang, der mit der technischen Inbetriebnahme beauftragt wurde, ein Betriebskonzept weitgehend nach dem Vorbild des Berliner LiquidFeedback-Systems vorbereitet – auch hier wurde eine pseudonyme Nutzung vorgesehen und auf die dadurch verloren gehende Überprüfbarkeit verzichtet.
Trotz der vorgesehenen Möglichkeit zur pseudonymen Nutzung waren die rund 2 Monate der Vorbereitung des Betriebs von einer intensiven, teils hysterischen Debatte um Bedenken hinsichtlich Datenschutz und Privatsphäre geprägt. Einerseits gab es eine Debatte, ob „einfache Parteimitglieder“ zu transparenter Entscheidung verpflichtete Politiker sein sollten, oder ob ihr Abstimmverhalten gar zur Privatsphäre gehöre. Andererseits wurde diskutiert, ob die abgegebenen Stimmen nach einer gewissen Zeit digital “vergessen” – also gelöscht – werden sollten. Letzteres brachte u. a. Frank Rieger, Sprecher des Chaos Computer Clubs, im Klabautercast von Martin Haase[22] ins Gespräch. An gleicher Stelle lobt Rieger auch die pseudonyme Nutzbarkeit ohne die Risiken der verloreren Überprüfbarkeit auch nur anzusprechen. Die zuvor kaum sichtbaren Gräben zwischen verschiedenen Lagern inner- wie außerhalb der Piratenpartei wurden in dieser Debatte deutlicher sichtbar denn je.
So kam es dann auch dazu, dass in die Konzeption der Akkreditierung eine sogenannte Clearingstelle aufgenommen wurde, die das Ziel hatte einen höheren Schutz vor einer Depseudonymisierung der Benutzer zu erreichen. Weiterhin wurden durch den Bundesvorstand am vorgelegten Betriebskonzept auch noch – aus Datenschutzgründen – weitere Änderungen vorgenommen, u. a. eine Löschung aller Abstimmungsdaten nach 4 Parteitagen. Durch die Aufnahme der Clearingstelle in das Betriebskonzept sowie die weiteren Änderungen ist neben der ohnehin schon verloren gegangenen Überprüfbarkeit der Abstimmungen nun auch die Akkreditierung der Mitglieder nur noch mit erheblichem Aufwand prüfbar. Der in der Betriebsdokumentation der Piratenpartei[23] vorgesehene routinemäßige Prozess „Teilnehmerkreisprüfung“[24] ist bisher noch nie ausgeführt worden.
Felix von Leitner brachte die Situation auf seinem Blog in gewohnt direkter Art auf den Punkt: „Es geht nicht.“[25]
Dennoch wurde das System am 13. August 2010 auf lqfb.piratenpartei.de[26] in Betrieb genommen. Es meldeten sich über 3000 Parteimitglieder an und es wurde in hunderten von Themen der bevorstehendene Programmparteitag vorbereitet. Innerhalb der nur rund 2 Monate bis zum Parteitag wurde der bis heute vermutlich intensivste Test von Liquid Democracy überhaupt durchgeführt. Am Ende wurden 28 in LiquidFeedback erfolgreich abgeschlossene Initiativen als Anträge auf dem Parteitag beschlossen. Die genauen Auswirkungen des Einsatzes von Liquid Democracy in der Piratenpartei und die Zufriedenheit der Piraten mit dem System wurden von Sebastian Jabbusch in seiner Magisterarbeit[27] sehr umfangreich wissenschaftlich beleuchtet.
Die am 4. März 2010 vom Deutschen Bundestag einberufene Enquête-Kommission Internet und Digitale Gesellschaft[28] (kurz EIDG) bekam unter anderem den Auftrag mit auf den Weg, Möglichkeiten zur elektronischen Bürgerbeteiligung zu untersuchen. Somit wurde Liquid Democracy auch dort Thema – und damit ebenfalls die Frage der Verknüpfung von Benutzerkonten mit Personen. Am 16. Juli 2010 stellten Axel Kistner und Andreas Nitsche der Online-Arbeitsgruppe der EIDG die Software LiquidFeedback vor und skizzierten ein mögliches Einsatzszenario. Um vertrauenswürdige Ergebnisse zu ermöglichen, wurde auch ein Akkreditierungsverfahren vorgeschlagen. Jeder Interessierte sollte nach der Registrierung einen Brief mit einem persönlichen Freischaltcode von der Bundestagsverwaltung erhalten und der Name des teilnehmenden Bürgers sollte im Benutzerprofil angezeigt werden.
Bemerkenswert ist, dass der Vorsitzende der EIDG, Axel E. Fischer (MdB, CDU) die Argumentation für die Verknüpfung der Benutzerkonten mit Personen kurz darauf in einer Pressemeldung aufgriff. In den Badischen Neuen Nachrichten sprach er sich für eine Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen mittels des Internet aus, sah dafür aber die Notwendigkeit den Klarnamen nennen zu müssen.
Fischer hätte hier in Bezug auf die Überprüfbarkeit von elektronischen Abstimmungen recht – doch leider verfolgte er mit den Äusserungen lediglich die politische Agenda seiner Partei, denn zugleich forderte er ein „Vermummungsverbot im Internet“[29] und einen „Radiergummi im Netz“. Spätestens jetzt wurde klar, dass über namentliche Abstimmungen und die damit verbundene Verknüpfung von politischen Meinungen und Personen in der aufgeheizten Stimmung nicht mehr sachlich diskutiert werden konnte.
Neben LiquidFeedback wurde auch ein Einsatzsenario von Adhocracy für die EIDG vorgestellt. Die Software Adhocracy hatte Friedrich Lindenberg zwischenzeitlich in den Liquid Democracy e. V. eingebracht. Die Bundestagsverwaltung ließ im Auftrag der Kommision die beiden Lösungen vergleichen. Dazu beantworteten Vertreter beider Projekte eine Vielzahl von Fragen, die die Software sowie einen konkreten Systembetrieb betrafen. Daraus erstellte die Bundestagsverwaltung eine Gegenüberstellung. Auf dieser Grundlage entschied sich die EIDG am 30. September 2010 eine eigene Plattform auf Basis von Adhocracy[30] betreiben zu wollen. Dies konnte so jedoch nicht umgesetzt werden[31], denn der Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) ließ das Vorhaben der „Kommission für den Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechniken und Kommunikationsmedien“ (IuK) des Ältestenrates vorlegen. Diese entschied dann, dass die von der Bundestagsverwaltung für dieses Projekt veranschlagten Kosten von 60.000€ bis 80.000€ nicht übernommen werden. Dabei war es unter anderem ausdrücklicher Auftrag der EIDG[32] „Möglichkeiten für neue Formen der Teilhabe, der Bürgerbeteiligung und Nutzung neuer Partizipationsformen“ zu untersuchen.
Diese Situation wollte der Chaos Computer Club nicht hinnehmen. Seine Mitgliederversammlung entschied am 20. Februar 2010 in Hamburg, dass der Verein bis zu 80.000€[33] für den Betrieb von Adhocracy zur Verfügung stellt. Das brachte Bewegung in die Sache. Die Sachverständigen in der EIDG drängten darauf, in jedem Fall das System in Betrieb zu nehmen – notfalls auch außerhalb des Bundestages. Trotz Intervention durch Axel E. Fischer[34] wurde dieses System dann auch noch im Februar 2010[35] auf enquetebeteiligung.de[36] als sogenannter „18. Sachverständiger“ der Kommission gestartet. Der Betrieb erfolgt durch den Liquid Democracy e. V. im Auftrag der EIDG. Axel E. Fischer begrüßte[37] als Kommisionsvorsitzender, dass nach rechtlicher Prüfung und Entscheidung des Ältestenrates nunmehr Rechtssicherheit herrsche und die nächsten Schritte gegangen werden könnten.
Halina Wawzyniak von der Partei Die Linke ist erfreut, dass nach vielen Monaten durch den Einsatz einiger Sachverständiger endlich offiziell Adhocracy durch die EIDG verwendet wird. Sie verlangt jedoch, dass weiter gegangen werden müsse und eine verbindliche Bürgerbeteiligung einzurichten sei[38].
Wawzyniak weist berechtigterweise darauf hin, dass nur dann Expertise und Meinungen in ein solches System eingebracht werden, wenn dessen Ergebnisse auch tatsächliche Auswirkungen haben, wenn es somit einen Anreiz zur Beteiligung gibt. Es wird nur wenige Bürger geben, die bereit sind aufwändige Textarbeit zu betreiben, wenn die Ergebnisse völlig unverbindlich sind.
Doch Wawzyniak verkennt dabei den Zustand des gestarteten Systems. Eine Akkreditierung der Bürger – wie ursprünglich angedacht – wurde nicht vorgesehen. Die Adhocracy-Instanz verfügt somit – genauso wie eine Testumgebung – über eine offene Benutzerregistrierung. Das heißt: Es ist ohne technische Kenntnisse für jeden möglich, praktisch beliebig viele Benutzerkonten zu registrieren und mit diesen dann auch abzustimmen. Damit kann leicht der eigenen Meinung ein höheres Gewicht verliehen werden. Die demokratischen Grundsätze werden hier eklatant verletzt, verbindliche Entscheidungen sind so keinesfalls möglich.
Dieses Problem ist auch den Sachverständigen aufgefallen. So schrieb Alvar C. H. Freude, von der SPD benannter Sachverständiger, per Kommentar im Blog der EIDG[39], dass Mehrfachanmeldungen sich auf technischem Wege entweder gar nicht oder nur durch eine ordentliche Akkreditierung z. B. mittels per Brief zugesendeter Freischaltcodes vermeiden ließen. Auf eine solche Akkreditierung könne aber laut Freude verzichtet werden, da es sich nur um „Tendenzabfragen“ handele. Weiterhin führte Freude aus, dass durch Abschalten der Delegationsfunktion ein erhöhtes Stimmgewicht durch Mehrfachanmeldungen ausgeschlossen sei.
Dieser Ansatz ist jedoch ungeeignet das Problem zu lösen. Eine direkte Erhöhung des eigenen Stimmgewichts per Delegation kann zwar verhindert werden, nicht jedoch mehrfache Stimmabgabe für die gleiche Abstimmung mittels verschiedener Benutzerkonten. Dennoch entschied man sich, die Delegationen zu deaktivieren. Damit ist nach der Überprüfbarkeit auch auf das Kernelement der Liquid Democracy verzichtet worden, die Möglichkeit die eigene Stimme (transitiv) weitergeben zu können.
Neben der Piratenpartei und der EIDG versuchten sich auch die Partei Die Linke und die Sozialdemokratische Partei Deutschland (SPD) an einem Test von Liquid Democracy. Sowohl auf dem zeitlich begrenzten Test der Partei Die Linke[40] als auch auf dem erst kürzlich gestarteten Portal der SPD[41] ist eine offene Registrierung möglich. Somit werden – wie bereits zuvor bei der EIDG besprochen – demokratische Prinzipien eklatant verletzt, denn es ist leicht möglich der eigenen Meinung durch Mehrfachanmeldungen ein höheres Gewicht zu verleihen.
Ein ernstzunehmender Test kann so nicht durchgeführt werden. Dennoch ließ die Partei Die Linke die erfolgreichen Initiativen als sogenannte Wortmeldungen gegenüber ihrer Programmkommision zu. Die SPD geht weiter und erstellt auf diesem Wege ihren „ersten Onlineantrag“ für ihren nächsten Bundesparteitag.
Nach einem Ausflug in die Bundespolitik kehren wir nun zur Piratenpartei Berlin zurück, denn diese möchte in das Abgeordnetenhaus und die Bezirksversammlungen von Berlin einziehen. Im Wahlkampf ist auch Liquid Democracy ein Thema, mit dem die Piraten punkten wollen. So schreibt die Berliner Morgenpost am 14. August 2011 über Andreas Baum, Kandidat auf Platz 1 der Landesliste der Piratenpartei für das Abgeordnetenhaus, dass die Piratenpartei strukturelle Vorteile gegenüber anderen Parteien habe. Mitglieder könnten mittels der Software LiquidFeedback zeitnah eigene Positionen vorstellen.
Christopher Lauer, ebenfalls Kandidat der Berliner Piraten für das Abgeordnetenhaus, vermeldet auf dem Kurznachrichtendienst Twitter deutlicher[42], dass Liquid Democracy nur erhalte, wer Piraten wähle.
Betrachten wir was dahinter steckt. Der Betrieb des Liquid-Democracy-Systems der Berliner Piraten hat sich seit der Inbetriebnahme mit dem ersten Prototypen von LiquidFeedback am 4. Januar 2010 mit der Möglichkeit zur (eingeschränkt) pseudonymen Nutzung praktisch nicht geändert. Überprüfbare namentliche Abstimmungen sind also nicht durchführbar. Der ursprüngliche Plan, zur Abgeordnetenhauswahl 2011 mittels Liquid Democracy verbindlich entscheiden zu können, wurde nicht umgesetzt.
Auch wenn Baum nur davon spricht, dass mittels Liquid Democracy eigene Vorstellungen von Mitgliedern präsentiert werden – also gar keine Entscheidungen getroffen werden sollen – dann heisst das trotzdem nicht, dass auf die Überprüfbarkeit der Abstimmungen dauerhaft verzichtet werden kann. Denn wenn Baum und andere Piraten am 18. September in das Berliner Abgeordnetenhaus gewählt werden und sie die Parteimitglieder mittels Liquid Democracy an der politischen Arbeit ernsthaft beteiligen wollen, werden sie vertrauenswürdige Meinungsbilder brauchen.
Einige Kandidaten der Piratenpartei Berlin für das Abgeordnetenhaus gehen weiter als Baum. Sie haben sich selber verpflichtet Entscheidungen aus dem Liquid-Democracy-System der Partei zur Grundlage ihres eigenen Abstimmverhaltens[43] zu machen. So heisst es in der Selbstverpflichtung, dass die Unterzeichner ihre Handlungen im Abgeordnetenhaus grundsätzlich nach der Meinung der Parteibasis richten wollen, Abstimmungsempfehlungen aus dem Liquid-Democracy-System der Partei folgen wollen und wenn ihnen dies nicht erfolgreich gelingt auch ihr Mandat zur Disposition stellen würden.
Sollte es wegen mangelnder Überprüfbarkeit zu nicht entdeckten Manipulationen an Entscheidungen des Liquid-Democracy-Systems kommen, hätten diese somit ganz reale politische Entscheidungen zur Folge, die undemokratisch zustande gekommen sind und nicht dem Willen der Parteimitglieder entsprechen. Die Selbstverpflichtung könnte daher von Abgeordneten nur dann verantwortungsvoll umgesetzt werden, wenn ein Liquid-Democracy-System mit überprüfbaren namentlichen Abstimmungen zur Verfügung stünde.
Es konnte gezeigt werden, dass es mittels Liquid Democracy möglich ist, politische Positionen zu erarbeiten und trotz vieler Beteiligter mit unterschiedlichsten Interessen konstruktiv zu verbessern und entscheidungsfähig zu machen. Dennoch bleibt es vorerst ein Traum, pseudonym und ohne offengelegte Verknüpfung der Meinung mit der eigenen Person an vertrauenswürdigen, also überprüfbaren, elektronischen Abstimmungen teilzunehmen und damit auch dauerhaft echten politischen Einfluß zu bekommen. Daher muß man sich entscheiden: Entweder verabschiedet man sich von dem Wunsch, bei einer namentlichen Abstimmung unerkannt bleiben zu können, oder man verabschiedet sich vom Ziel echter politscher Einflußnahme durch verbindliche Entscheidungen mittels Liquid Democracy.
Bereits der eingangs zitierte Jan Huwald wies darauf hin, dass es bei der Umsetzung von Liquid Democracy auf Detailfragen ankäme, da es sich um etwas völlig neuartiges handele und eine eigene „demokratische Kultur“ benötige. Trotz allem sei es ein lohnenswertes Ziel, um den Bürger langfristig ständig an politischen Entscheidungen teilhaben lassen zu können, denn der Fortschritt der menschlichen Vernetzung würde dies ermöglichen.